Das Götzenbild
von Monte Carlo

Der Füllfederhalter steckte tief in Roccos Hals, wie der brillante Doktor (im Folgenden schlicht „der Doktor“ genannt) sogleich feststellte. Es war die reinste Rutschpartie gewesen — erst vor dem Haus, schließlich auf diversen Parkplätzen oder unter der großen Erle hinter dem Einkaufszentrum. Erschöpft ließ er sämtliche Instrumente aus seinen glitschigen Fingern flutschen. Ein scheppernd-dröhnender Vogel hatte ihm und seinen Verwandten ab 16:30 Uhr den Schlaf geraubt.

Künstlerische Interpretation des Tentakels, das den Doktor am Ende erledigt (oder auch nicht).

Rocco war tot — kaltgemacht von einer zwielichtigen Bande halbwüchsiger Großstadtkids. „Hervorragend“, dachte der Doktor und mümmelte sich in seine Vollkornsteppdecke ein, die an einer cleveren Kolbenkonstruktion baumelte. Gekonnt erhaschte er einen kurzen Blick auf drei Streifenpolizisten, die auf dem Karussell vorbeirauschten. Sie schienen nichts bemerkt zu haben. Es gab auch nichts zu bemerken — außer, dass die Schnürsenkel des Toten verkehrt herum saßen und an der Federboa noch das Preisschild hing. Irrelevant, am Selbstmord gab es nichts zu rütteln, das war einfach weniger Papierarbeit.

Der einäugige Joe hatte schon lange auf diversen Listen gestanden, aber er war stets zu clever gewesen. Nun hatte ironischerweise die Urkraft von Mutter Natur den Job erledigt. Den Doktor stimmten diese Umstände äußerst gleichgültig, dennoch lachte er sich insgeheim ins Fäustchen. Er setzte das Skalpell an und begann damit, die Arterien des Opfers säuberlich und konzentriert herauszurupfen. Deren Länge musste er bestimmen, um daraus Rückschlüsse auf die Todesursache zu ziehen. Er tupperte sich noch etwas für Zuhause ein und verließ den Saal ohne Umwege.

„Sir Isaac Ghulenstein“ war in gotischen Lettern in das Schild der Tür eingelasert, vor welcher der Doktor stehen blieb. Ehrfürchtig betätigte er den gusseisernen Türklopfer (ein Familienerbstück). Von da an ging alles so schnell, dass selbst der draußen dumpf vorbeitrommelnden Hip-Hopper-Parade der Atem stockte. Niemand sah, wie der Doktor von einem ockerfarbenen Tentakel gepackt wurde und in der Tiefe der Kanalisation verschwand. Niemand sah es, weil es nicht geschah.

… oder?

Drei Fragen an den aufmerksamen Leser

  1. Wer war der einäugige Joe?
  2. Warum kennt der Doktor seine eigene Telefonnummer nicht?
  3. Wie alt ist der Postbote?
    Hinweis: Postboten gehen mit 60 in Rente.
  4. Warum gibt es vier Fragen, obwohl nur von dreien die Rede war?

Musterlösung nach Eduard Kramer

  1. Der einäugige Joe ist eine Verkörperung des Autors, der damit auf den Ruf nach mehr Blau antwortet.
  2. Er kennt sie nicht, weil er sich von der Erle hinter dem Einkaufszentrum dazu gedrängt fühlte, seine Telefonnummer in einem unregelmäßigen Rhythmus ändern zu lassen.
  3. Sei p eine Mersenne-Primzahl und das Alter des Postboten. Es folgt unmittelbar: p lässt sich darstellen als 2n-1 mit n ∈ N, so dass p = 31 als wahrscheinlichste Lösung angenommen werden muss. Ebenfalls akzeptierte Lösung: Welcher Postbote?!
  4. Weil es auch vier Antworten gibt!

Gekocht am 22. Mai 2006.
Zuletzt aufgebraten am 11. Mai 2014.