Das Tagebuch des
Ustongharo K. Leur
(Teil 2)

Der Morgen des 2. Tages — noch 86 Tage

Unsere Wecker klingeln pünktlich um 3:30 Uhr. Der Kamerad Ustongharo Zeckenhals hat einen ganz furchtbar ausgelutschten Pop-Song als Weckton eingestellt. Da läuft es einem gleich kalt den Rücken herunter, und man möchte ihn am liebsten schlagen. So viel haben wir aber bereits am ersten Tag gelernt, dass wir wissen, dass man das nicht darf. Man darf nur niedrigere Dienstgrade schlagen, und das auch nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen, die in zahlreichen Paragraphen festgehalten sind. Da das Handelsgesetzbuch, das man uns ausgehändigt hat, nichts mit Soldatenrecht zu tun hat, können wir diese Paragraphen jedoch nicht nachlesen.

Nach dem Aufwachen muss das Zimmer erstmal gelüftet werden, denn einige Kameraden haben in der Nacht sehr heftig gepupst. Das muss wohl die Gulaschsuppe schuld gewesen sein. In den Waschräumen herrscht großer Andrang. Aus den Duschen kommt wahlweise kaltes oder sehr kaltes Wasser. Die einzige weibliche Ausbilderin, Frau Marcciato Pervafora, steht amüsiert in einer Ecke und macht sich über unsere Genitalien lustig. Ihre Haare sind auf 5 mm getrimmt. Sie sieht aus wie eine Mischung aus Eichhörnchen und Alien. Den armen Kameraden, der sich den Spott nicht gefallen lässt und sie auf diese Ähnlichkeit hinweist, sehen wir bis zum Abend nicht wieder, und da fehlen ihm ein Bein und ein Ohr. Angeblich war das aber vorher schon. Kann sein, ich weiß es nicht — ich hatte nicht darauf geachtet.

Es wird knapp. Ich schaffe es gerade rechtzeitig, mich bis 4:30 Uhr fertigzumachen. Es herrschen Chaos und Hektik. Viele von uns wühlen panisch in ihren Schränken herum. Andere haben längst aufgegeben und kauern weinend in einer Ecke. Niemand hat uns genau gesagt, was wir anziehen sollen. Es gibt ungefähr 25 verschiedene Anzüge, bei denen gewisse kleine Details besonders wichtig sind. Zum Beispiel muss man beim „Kriegsanzug, erweiterte Form“ die Krawatte mit Tarnmuster als Stirnband verwenden und — ganz wichtig — darauf achten, dass unser Logo (das aussieht wie eine Zielscheibe) im goldenen Schnitt zwischen linkem und rechtem Auge sitzt. Ein aggressiver Gesichtsausdruck, der Kampf- und Opferbereitschaft ausstrahlt, rundet den Anzug harmonisch ab. Ich entscheide mich für den „Frühstücksanzug, Grundform“, der aus einer feschen Kombination aus umgedrehtem Schlafanzugoberteil und hochgekrempelter Wasserschutzhose besteht. Die Koppel, an der das Essbesteck befestigt ist, wird elegant über die Schulter geworfen und mit dem karierten Schal durch einen absurd komplizierten Seemannsknoten fixiert.

Es ist 4:30 Uhr. Die knapp 60 Ustongharos der 1. Bahn der 2. Champagne stehen alphabetisch sortiert im Flur und warten ängstlich auf das, was kommen mag. Einige haben noch Rasierschaum im Gesicht, andere schlafen gar noch. Sie wurden von ihren Kameraden einfach aus dem Bett gehoben und schlafend in den Flur gestellt. Stille. Endlich — eine Tür öffnet sich. Ein Offizier streckt zuerst seine Hand heraus und macht eine seltsame Geste. Nun sehen wir auch seinen Kopf. Er pustet kurz in eine Trillerpfeife, stampft zweimal auf den Boden und verschwindet wieder. Die Tür fliegt zu. Eine Lautsprecherdurchsage ertönt. Einzelne Kameraden werden namentlich aufgerufen und in diverse Gebäude geschickt, wo sie sich melden sollen. Ein Glück, ich bin nicht unter den Genannten. Ob wir sie wiedersehen?

Einer aus unserer Reihe entpuppt sich plötzlich als verkleideter Ausbilder. Er hat sich unter die Ustongharos gemischt, um Moral und Pflichtbewusstsein zu überprüfen. Nun befiehlt er, die Formation „doppelte Spatenreihe“ einzunehmen. Dazu teilt sich die Bahn in vier ungefähr gleich große Gruppen. Zwei davon bilden eine V-förmige Spitze, wobei jeder dritte Soldat „den Kampfraum nach hinten absichert“. Die dritte Gruppe gleitet zum Minenräumen voraus. Die Soldaten der vierten Gruppe laufen nebenher, schlagen auf eine große Trommel und versorgen ihre Kameraden mit kleinen Snacks. Natürlich ist es sehr schwierig, diese großräumige Formation im doch sehr engen Flur einzunehmen. Das hat der Ausbilder wohl nicht bedacht. Er gibt trotzdem den Marschbefehl, und der große Haufen setzt sich stolpernd und trommelnd in Bewegung. Einer nach dem anderen fällt die Wendeltreppe hinunter. Wir haben erste Verluste zu beklagen. Der Kamerad Ustongharo Zachowski stößt mit dem Kopf gegen einen antiken Feuerlöscher. Ustongharo Burgeselle wird von der Wache angeschossen, da er wegen seiner 2 cm langen Haare für einen Terroristen gehalten wird. Vor dem Champagnengebäude sammeln wir uns „in Reihe“. Das heißt: „fünf hintereinander, zehn nebeneinander“. Da wir aber 57 sind, funktioniert das nicht. Die Übriggebliebenen werden abgeführt. Vielleicht sind sie jetzt an einem schöneren Ort.

Nun müssen wir uns nach Schuhgröße sortieren, und dann laufen wir im Gleichschritt zur Kantine. Dass der Gleichschritt katastrophal misslingt, muss ich wohl nicht erwähnen. Ustongharo Zeckenhals bricht sich den Fuß und wird daraufhin mit einer Rikscha zur Kantine gefahren. Vor der Kantine treten wir wieder in Reihe an. Die Reihe wird nun in zehn Rotzen unterteilt. Der Ausbilder befiehlt rotzenweises Stürmen der Kantine. Das lassen wir uns nicht zweimal sagen und schlingen in aller Eile so viele Brötchen hinunter wie es in der kurzen Zeit möglich ist. Schließlich steht nach dem Frühstück die erste Geländeausbildung auf dem Plan …

Gekocht am 10. April 2007.
Zuletzt aufgebraten am 14. Mai 2014.


Alle Texte in dieser Reihe

  • Teil 1
    diagnostiziert am 9. April 2007
  • Teil 2
    diagnostiziert am 10. April 2007