Im West End nichts Neues

Typisches postmodernes West End.

Die Luft zieht auf hinfällige, verzerrte Weise an der Luke vorbei. Vögel werden vom frischen Fahrtwind angeködert und kreisen spiralförmig, vom Starkstrom zu Sand gegrillt, auf das fahrende Dach hinab. Sie lösen sich in Staub auf, der in einem sanften Nebel wieder hochsteigt. Später werden einige von ihnen als Dampf am Himmelszelt kondensieren und den ewigen Kreislauf des Lebens aus erster Hand erfahren. Es ist der typische Samstagmorgen, der nach der typischen Freitagnacht den Globus behutsam in seine gewohnten Bahnen zurücklenkt. Am West End jedoch das exakte Gegenteil: Wohlbetuchte Herrschaften nicken den Stadtbewohnern zu, die zwischen Herzlichkeit und Hassliebe zerrissen den Gruß erwidern, nur des betörenden Gefühls wegen, das sich Ekstase nennt. Weitblick liegt in der angenehm kühlen Luft und schiebt den Horizont ein paar Meilen in die Ferne, die Umgebung schlagartig ihrer Mystik beraubend. Kahl ist es und leer, trostlos gepflasterte Pfade und eintönige Jalousien schmücken den spärlich bewucherten Landstrich. Desinteresse und Apathie stehen selbst den vereinzelten Wolken ins Gesicht geschrieben. In weiter Vergangenheit liegen die Zeiten der Kastelle und Aristokraten. Blitzartig durchschneidet ein Wirbel aus Heu das abgeerntete Feld, schleppt für kurze Zeit einen Hauch von Leben ein und erweckt die Zeit zum Leben. In einem fahlen Lichtblitz, begleitet von einem vollkommenen alles durchdringenden Ton, klingt der spektrale Farbenrausch langsam wieder ab. So kurz und befremdend war es, dass die Frage nach der Wahrhaftigkeit dieses Schauspiels zwingend scheint. Doch eine absolute Gewissheit kann es noch nicht geben. Nur in kosmischen Fernen schimmert die Hoffnung, dass die Küste der Zeit ein verblasstes Echo anspült. Hier im West End, wo die Grenze der Stadt sich sowohl in der Landschaft als auch in den Köpfen unendlich schleppend dahinzieht, hat man die Zeit vor Zeiten vergessen. Ein Tag überlagert den Anderen, wie eine Welle die Andere, und nur wer genau hinsieht, vermag die fließenden Grenzen durch die Fassaden hindurch auf einen diskreten Augenblick festzunageln. Man nennt sie die Fata Morgana des West Ends, wo Raum und Zeit im Kreis zerfließen und der Kalender stets den neunten Juli zeigt.

Gekocht am 9. Juli 2007.
Zuletzt aufgebraten am 1. Mai 2014.