Das Tagebuch des
Ustongharo K. Leur
(Teil 1)

1. Tag — noch 87 Tage

Heute geht es also los. Ich weiß nicht, was mich die nächsten Monate erwartet. Ab heute bin ich der Ustongharo Karlos Leur mit der Personenkennziffer 7. Ich hoffe, dass ich mir das gut merken kann.

Die Reise zur Jungfrau-vom-Fels-Kaserne dauert lange drei Stunden. Im Zug treffe ich bereits auf einige Leidensgenossen. Endlich in der tristen Kleinstadt Fiez angelangt, stellen wir entsetzt fest, dass sich die Kaserne 12 km entfernt auf einer Anhöhe gute 500 m über uns befindet. Man kann die Holzbauten schemenhaft aus den Wolken herausragen sehen. Jemand meint sogar, da oben läge Schnee. Zum Glück wurde uns versprochen, dass wir mit Minenräumpanzern und einem sowjetischen Transporthubschrauber am Bahnhof abgeholt würden. Wir warten also, aber es kommt keiner. Jemand ruft in der Kaserne an und erfährt nach langem Nachfragen, dass den Fahrzeugen auf dem Weg angeblich der Sprit ausgegangen und der Auspuff des Hubschraubers verstopft sei. Ein technisch versierter Kamerad behauptet zu wissen, dass Hubschrauber gar keinen Auspuff haben. Wir mögen doch bitte zu Fuß gehen oder uns ein Taxi holen, heißt es weiter, aber die Kosten dafür müssten wir selbst tragen.

Einige übermütige Kameraden, die sich jetzt schon profilieren wollen, marschieren los in Richtung Kaserne. Andere, so auch ich, lassen sich gemütlich mit dem Taxi an ihnen vorbeifahren und freuen sich, dass sie ihr schweres Gepäck nicht tragen müssen. Von den übermütigen Kameraden schaffen es nur zwei bis nach oben. Im Vorbeifahren zähle ich ungefähr vierzig Ohnmächtige, die sabbernd am Straßenrand liegen. Die Hitze (über 40 °C) und die hohe Luftfeuchtigkeit sind eben nicht zu unterschätzen!

In der Kaserne angelangt müssen wir zunächst an der Wache vorbei. Wir zeigen unsere Papiere vor, die wir per Post erhalten haben. Einige tollpatschige Kameraden haben ihre Papiere verloren, vergessen oder vor Aufregung verschluckt. Sie werden weggeführt und kehren erst am Abend mit einigen blauen Flecken zurück. Angeblich seien sie beim Essen gestolpert und wie eine Reihe Dominosteine umgefallen. Wer glaubt denn sowas?

Die Wache teilt uns mit, zu welcher Champagne wir gehören. Jede Champagne hat ihr eigenes Gebäude. Dort müssen wir uns mindestens zehnmal in einer langen Schlange von Ustongharos anstellen, um dann jedes Mal eine winzig kleine Formalität zu erledigen. Beim ersten Mal gibt man uns beispielsweise nur ein Formular in die Hand und beim zweiten Mal einen Kugelschreiber. Beim dritten Mal wird das ausgefüllte Formular abgestempelt, das wir dann beim vierten Mal abgeben, nur um zu erfahren, dass dieses Formular ausschließlich für privatrentenversicherte Sehbehinderte gilt. Wir müssen uns erneut hinten anstellen und ein zweites Formular empfangen, das bis auf die Farbe genau wie das andere aussieht. So geht das mehrere Stunden lang, bis es schon dunkel und kalt ist. Wir haben Hunger, aber die Chancen auf Essen stehen schlecht. Hin und wieder läuft ein höherer Dienstgrad mit einem triefenden Hotdog in der Hand an uns vorbei, vermutlich ein Marcciato oder gar ein Muchacho, und brüllt einzelne von uns an, deren Haarschnitte auf einen rebellischen Charakter hinweisen.

Irgendwann ist die Papierarbeit erledigt, und wir werden in Bahnen aufgeteilt. Jede Champagne besteht aus drei Bahnen. Jede Bahn hat ihre eigene Etage im Champagnengebäude. Ich gehöre zur 1. Bahn der 2. Champagne. Am Anfang des Flurs prangert ein klischeehaftes kindisch gemaltes Schild (Fingerfarbe?), auf dem zu lesen ist, dass unsere Bahn auch als „Die bludigen Winthunde“ bekannt ist. Darunter ist dann allerdings ein Bild von einem friedlich dreinschauenden Hund mit buntem Strohhut auf dem Kopf zu sehen. Und ob die Schreibfehler wohl Absicht sind? Der dümmliche Kamerad Peiß ist fasziniert von dem süßen Hündchen und redet den ganzen Tag über nichts anderes mehr.

Im Flur müssen wir erneut sehr lange anstehen, um auf die Zimmer verteilt zu werden und diverse sinnlose Utensilien in Empfang zu nehmen — darunter Sandsäcke, eine alte Ausgabe des Handelsgesetzbuches, Luftschlangen und einen Eimer abgelaufener Mayonnaise. Wie wir sehr schnell lernen, darf man auf keinen Fall „Stuben“ sagen, denn „Stuben gibt’s im Puff“. Überhaupt wird hier ein äußerst seltsames Vokabular benutzt. Einen Bus nennt man beispielsweise nicht Bus, sondern KOM (Kraftomnibus). Wer sich dem Vokabular widersetzt, dem droht Prügel. Als ich so im Flur stehe, betrachte ich die an den Wänden hängenden Propagandaplakate von diversen Waffen, Fahrzeugen, Schiffen, Flugzeugen und Hubschraubern, von denen wir wahrscheinlich nie ein reales Exemplar zu Gesicht bekommen werden. Man fragt sich, ob es diese Maschinen tatsächlich gibt, oder ob sie nur erfunden wurden, um Rekruten anzulocken oder dem Feind nach außen hin Angst einzuflößen.

Ich gehöre zu den letzten Kameraden, die einem Zimmer zugewiesen werden. Leider ist dann aber keins mehr frei. Jetzt könnte man wütend werden, aber man muss das doch auch von der anderen Seite betrachten: Niemand weiß schließlich im Vorhinein, wie viele Rekruten höchstens hier erscheinen werden, da man es ja keinem zutrauen kann, die weggeschickten Einberufungen zu zählen. Somit kann man nur grob schätzen, und bei uns hat man sich halt etwas nach unten verschätzt — sowas kann doch mal vorkommen. Schließlich findet man für uns 6 Kameraden doch noch ein Zimmer, und zwar eine Etage tiefer, im Revier der 2. Bahn, auch bekannt als „Die sehr harten Kampfseue“.

Spät am Abend dürfen wir dann doch noch essen gehen. Wir werden von zwei mürrischen Hilfsausbildern in die Kantine geführt. Man wirft uns diverse unverständliche Kommandos an den Kopf, die wir natürlich noch nicht verstehen, aber egal. Es gibt Gulaschsuppe mit Haut oben drauf, für die selbst die Vordersten in der Schlange nur wenige Minuten Zeit haben. Dann stehen die Ausbilder auf, was für uns das Zeichen ist, ebenfalls aufzustehen. Wer das nicht tut, wird mitsamt Sitzbank umgestoßen und darf anschließend den Boden putzen.

Morgen müssen wir früh aus den Federn. Um 4:30 Uhr ist Antreten auf dem Flur. Wir unterhalten uns noch ein wenig auf unserem Zimmer. Die Kameraden scheinen immerhin nett zu sein, ich werde morgen von ihnen berichten. Wir sind sehr müde und schlafen schnell ein. Was für ein erster Tag!

Gekocht am 9. April 2007.
Zuletzt aufgebraten am 12. Mai 2014.


Alle Texte in dieser Reihe

  • Teil 1
    diagnostiziert am 9. April 2007
  • Teil 2
    diagnostiziert am 10. April 2007